Sierra Leone
Sierra Leone ist eine Republik in Westafrika mit einer Fläche von 71.740 qkm. Sierra Leone wird begrenzt von Guinea, Liberia und den Atlantik. In Sierra Leone leben ca. 5,34 Millionen Menschen, dass sind rund 75 Menschen je Quadratkilometer. Die Lebenserwartung lag nach WHO-Angaben für 2006 bei 42,6 Jahren. Damit zählt Sierra Leone zu den fünf Ländern mit den niedrigsten Lebenserwartungen.
Die ehemalige britische Kolonie belegt seit Jahren den letzten Platz auf der Liste des UNDP, gleichbedeutend mit dem Status des am wenigsten entwickelten von 177 untersuchten Ländern. Die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet, da die hierfür entstehenden Kosten nicht aufgebracht werden können. Die Ausstattung in den wenigen Krankenhäusern und Arztpraxen ist mehr als notdürftig.
Ohnehin schon zu den ärmsten Länder dieser Welt gehörend, wurde die Not nach dem verheerenden Bürgerkrieg 1991 bis 2001 noch größer. Noch heute leben viele Menschen in Notunterkünften, da ganze Dörfer ausgerottet und niedergemetzelt wurden.
Besonderes Leid trifft die Kinder, die während des Krieges ihre Eltern verloren haben. Sie werden meist nur notdürftig von Verwandten oder Nachbarn versorgt. Es gibt kein Dach überm Kopf, kein Bett, selten Mahlzeiten und kaum Kleidung. Das Schulgeld kann nicht aufgebracht werden. Die Kinder kämpfen ums nackte Überleben von Heute nach Morgen ohne Perspektiven für die Zukunft.
Verschärft hat sich die Situation durch den Ausbruch von Ebola in Westafrika. Das Land hat dabei, zusammen mit Guinea und Liberia, die größten und komplexesten Ausbrüche der Seuche erlebt. Tausende Tote hinterlassen weitere Waisenkinder, die aus Angst vor Ansteckung keine neue Heimat finden und auf der Straße leben.
Erste Begegnung
Spaziergang am Strand. Wir waren froh, einen kurzen Moment unter uns zu sein. So viele erste Eindrücke galt es zu verarbeiten. Da war er auf einmal da. Abass.
Haben wir ihn gefunden? Hat er uns gefunden? Wer vermag das zu sagen? Heute wissen wir: Wir sind uns begegnet.
Seine Gehhilfen hatten mit Sicherheit bessere Zeiten erlebt, das untere Stück, welches zur Verlängerung dient, fehlt gänzlich, der Rest zeigt nichts mehr von seiner einstigen Farbe wohl aber Rost. An den Füßen Flip-Flops, bleibt er immer wieder im Sand stecken und wir verlangsamen unsere Schritte, damit er mit uns Schritt halten kann.
Seine Geschichte
Er ist wohl 5 oder 6 Jahre alt als im Krieg eine Kugel sein rechtes Bein durchbohrt. Tagelang wartet er allein in einem Straßengraben auf Hilfe. Irgendwann kommt jemand, bringt ihn in ein Lazarett. Notdürftig wird er operiert, überlebt und muss erfahren: seine Eltern sind tot. Viel später einmal berichtet ihm jemand, dass zwei jüngere Geschwister wohl auch überlebt haben. Er ist zu klein, zu sehr verletzt, zu schwer traumatisiert um möglichen Hinweisen nach zu gehen. Später einmal wird keiner etwas über den Verbleib seiner Geschwister wissen, mögliche Spuren werden verloren gegangen sein, wie vieles verloren geht. So auch Abass Erinnerung an sein Geburtsdatum. Abass weiß nicht wann er geboren ist. Abass hat auch keine Adresse. Er lebt am Strand. Sein einziger Besitz: Das T-Shirt und die Shorts, die er trägt und jeden Tag wäscht, seine Flip-Flops, mindestens zwei Nummern zu groß und sein größter Schatz, seine Gehilfen, verrostet, viel zu kurz, aber ohne sie könnte er keinen Schritt gehen.
Sein Wunsch
Abass bittet um Hilfe. Nein, Geld wolle er nicht. Er braucht jemanden, der in einer Schule sagt: Dieser Junge muss lernen. Lesen, Schreiben, Rechnen. Dieser Junge muss später einmal für sich selber sorgen können.
Wir sind tief ergriffen. Unser erster Gedanke: Seine Geschichte passt nicht in unsere Pläne. Aber da war es schon zu spät, denn seine Geschichte hatte sich schon längst in unseren Herzen breit gemacht, als wir noch nicht einmal sicher waren, ob wir auch alles richtig verstanden haben.
Inzwischen besucht Abass mit wachsender Begeisterung die Schule. Unser Freund Lamin Bangura genannt Coleson hat ihn in seine Familie aufgenommen. Ein Schermbecker Pate für Abass ist gefunden und der hat sogar schon die ersten persönlichen Zeilen, von Abass selbst geschrieben, erhalten. Unser Plan ist um einen wichtigen Punkt ergänzt: Wenn das Kinderhaus fertig ist, wird auch Abass darin einziehen.
Schön, dass es dich gibt, Abass Tarawally. Willkommen in unserem Leben.
Lied für Yeabu
Sie stand allein am Strand, wo ich Abass damals fand, sie sah mich an mit diesem Blick, der fesselt Stück für Stück. Sie war traurig, wirkte leer, zu lächeln fiel ihr schwer, ich sprach sie zaghaft an: Wer hat dir so wehgetan?Yeabu heißt das Mädchen, das am Strand ich fand, ängstlich, ohne Hoffnung, da nahm ich ihre Hand; Yeabu, kleines Mädchen, was du sagst, das darf nicht sein! Deine Tränen dringen, in mein Herz hinein.Ihre Seele schrie einst laut, doch die Welt um sie blieb taub; |
als ihr kleines Herz zerbricht, gab es ein Entrinnen nicht; ihre Tränen ungeseh’n, so darf es nicht weiter geh’n, dort wo Hilfe stetig schweigt, geschieht Unrecht, geschieht Leid!Yeabu heißt das Mädchen, das am Strand ich fand, ängstlich, ohne Hoffnung, da nahm ich ihre Hand, Yeabu, kleines Mädchen, was du sagst, das darf nicht sein! Deine Tränen dringen, in mein Herz hinein.Yeabu, kleines Mädchen, home of hope ist nah, Yeabu, komm nach Hause, ich bin immer für dich da. |
Yeabu, kleines Mädchen, nie mehr soll dir Leid gescheh’n! Gott ist unser Zeuge und er hat uns längst geseh’n.Yeabu, kleines Mädchen, home of hope ist nah, Yeabu, komm nach Hause, ich bin immer für dich da.Yeabu, kleines Mädchen, nie mehr soll dir Leid gescheh’n! Gott ist unser Zeuge und er hat uns längst geseh’n.Yeabu, little girl, home of hope is love. |
Der kleine Abdulai Sesay ist tot. Nicht einmal ein Jahr alt durfte er werden. Ja, ich habe geweint als ich es gehört habe und noch immer bin ich sehr traurig. Im Juli 2009 lernten wir bei unserem Aufenthalt in Sierra Leone den kleinen Abdulai kennen. Er war damals gerade vier Monate alt, winzig klein, unterernährt und sehr sehr krank. In ihrer großen Not und Sorge um Abdulai legte seine Großmutter ihn in meine Arme, in die Arme einer Fremden, die sie nicht kannte und auf die sie ihre ganze Hoffnung projizierte. Und es geschah, in meinen Armen liegend fiel er hinein mitten in mein Herz. „Er braucht eine Operation sonst müsse er sterben“ – das war das, was ich verstand. 50 Euro wurden für diese Handvoll Leben zur fairen Chance. Unser guter Freund Lamin „Coleson“ Bangura nahm Kontakt auf mit dem Spital. Die Angaben der Familie wurden dort bestätigt. Da wird man ganz still. 50 Euro – ein Theaterbesuch, ein candle light dinner in einem gemütlichen Restaurant, ein paar Schuhe, die man einfach nur schön findet. Und dann auf einmal 50 Euro für ein Leben. Da fragt man nicht, da gibt man. Mit dem kleinem Abdulai auf dem Arm hätten Sie ganz genauso gehandelt. Als Abdulai seine Infusionen bekam, die ihn ein wenig kräftigen sollten um dann operiert zu werden, waren wir längst wieder zu Hause. Und die Nachricht kam: Alles gut! Abdulai wird gesund werden. 50 Euro – ich gebe es zu, das hat mich schon ein wenig traumatisiert. Abdulais Geschichte ging durch die Presse. Spontan meldete sich eine Patenfamilie aus Wesel für ihn. Freude und Hoffnung für Abdulai nahmen Dimensionen an, die in dem Augenblick größer waren als das kleine Kerlchen selbst. Dieses Gefühl trägt einen schon dahin die Hände zu falten um DEM da oben zu danken. Dann kam die Regenzeit. Schlimmer als sonst? Wir wissen es nicht. Aber sie kam, das Wasser stieg und stieg und die kleine Wellblechhütte der Familie Sesay wurde so überflutet, dass sie nur vor dem Wasser fliehen konnte. Sie floh in ein Dorf zu Verwandten. War Abdulai da schon krank? Auch das wissen wir nicht. Es ist wohl anzunehmen. Auf dem Land ist die Not noch größer als in der Stadt. Genug zu Essen gibt es es nie. Eine medizinische Versorgung schon gar nicht. Am Ende der Regenzeit trat die Familie die Rückreise an. Abdulai ist zu Hause nicht mehr angekommen. Unterwegs ist er eingeschlafen, für immer. Der kleine Abdulai Sesay ist tot. Warum?? Er war auf einem so guten Weg. Und wenn ich bei Nacht die Sterne schaue, dann weiß ich auf einem sitzt du. Abdulai. Und wenn ich bei Tag in mein Herz schaue, dann fühle ich ihn in meinen Armen, noch immer. Abdulai. Dann ahne ich diese leise Zeichen: Die Kinder dieser Welt gehen uns alle an. Ob gleich nebenan, in der nächsten Stadt, in Afrika oder Haiti. Immer dort wo ein Kind uns braucht, immer dort geht es uns an. Ein Kind welches wir heute vergessen wird uns morgen vergessen. Ein Kind welches wir heute nicht lieben wird uns morgen nicht lieben. Aber wir sind geboren zu leben und zu lieben und indem wir lieben leben wir. Nicht vorher und nicht nachher. Die Welt und wir Menschen liegen in unserer eigenen Verantwortung. Es reicht nicht aus zu sagen man müsste was tun, wir müssen beginnen. Jetzt! In diesem Augenblick. Wir sind schwarz, wir sind weiß, wir sind Europäer, Amerikaner, Afrikaner, …, wir sprechen verschiedenen Sprachen und haben verschiedene Religionen, aber das Größte, das Verbindende, diese wunderbare einzigartige Gemeinsamkeit: Wir sind Menschen! Menschen, trotz aller Unterschiede. Lasst uns Menschen sein! Der kleine Abdulai Sesay ist tot. Aber die Begegnung mit ihm lebt. Für immer. |